Michelangelo, Moses

Michelangelo Buonarroti,
Moses in S. Pietro in Vincoli, Rom

1513-42

Gedacht war das Meisterwerk Michelangelos für das Grabmal von Papst Julius II. (1503-1513, Giulio della Rovere), als eine von mehreren Randfiguren. Darüber, wie dieses Grabmal aussehen und wo genau es stehen sollte, lassen einige Skizzen Michelangelos Vermutungen zu.

Für das Grabmal hat Michelangelo ausser dem „Moses“ auch die (zum Teil fragmentarischen [unvollendeten])  „Sklaven“ geschaffen, die in Florenz in der Accademia und in Paris im Louvre stehen. Auch die beiden in S. Pietro in Vincoli in den seitlichen Nischen neben dem „Moses“ stehenden Figuren der Rahel und Lea hat Michelangelo entworfen, ausgeführt wurden sie wohl hauptsächlich von Raffaello da Montelupo. Besonders die anmutige, betende Rahel (die linke Figur) atmet den Geist des Meisters. Geplant war eigentlich von Michelangelo ein Grabmal mit 41 Statuen, von Lebensgrösse bis zu doppelter Lebensgrösse. Ungefähr 25 wollte er selber ausführen.

Im Zentrum der Ausführung Moses‘ steht das alte Testament!

Aus dem Alten Testament, Exodus 32, Der Tanz um das Goldene Kalb
Auszug Israels aus Ägypten (aus der Sklaverei)

Als das Volk Israel sah, dass Moses noch immer nicht vom Berg Sinai (er weilte dort 40 Tage und 40 Nächte, nachdem ihm der Herr alles gesagt hatte und die beiden Tafeln der Bundesurkunde, steinerne Tafeln, übergeben hatte)  herabkam, versammelte es sich um Aaron (Bruder Moses’) und sagte ihm: Komm, mach uns Götter, die vor uns herziehen. Denn dieser Moses, der Mann, der uns aus Ägypten heraufgebracht hat – wir wissen nicht, was mit ihm geschehen ist. Aaron antwortete: Nehmt euren Frauen, Söhnen und Töchtern die goldenen Ringe  ab, die sie an den Ohren tragen, und bringt sie her! Da nahm das ganze Volk die goldenen Ohrringe ab und brachte sie zu Aaron. Er nahm sie von ihnen entgegen, zeichnete mit einem Griffel eine Skizze und goss danach ein Kalb. Da sagten sie: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben. Als Aaron das sah, baute er von dem Kalb einen Altar und rief aus: Morgen ist ein Fest zu Ehre des Herrn. Am folgenden Morgen standen sie zeitig auf, brachten Brandopfer dar und führten Tiere für das Heilsopfer herbei. Das Volk setzte sich zum Essen und Trinken und stand auf, um sich zu vergnügen.

Da sprach der Herr zu Mose: Geh, steig hinunter, denn dein Volk, das du aus Ägypten heraufgeführt hast, läuft ins Verderben. Schnell sind sie von dem Weg abgewichen, den ich ihnen vorgeschrieben habe. Sie haben sich ein Kalb aus Metall gegossen und werfen sich vor ihm zu Boden. Sie bringen ihm Schlachtopfer dar und sagen: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben.  Mose kehrte um und stieg den Berg hinab, die zwei Tafeln der Bundesurkunde in der Hand.

Als Mose dem Lager näher kam und das Kalb und den Tanz sah, entbrannte sein Zorn. Er schleuderte die Tafeln fort und zerschmetterte sie am Fuss des Berges. Dann packte er das Kalb, das sie gemacht hatten, verbrannte es im Feuer und zerstampfte es zu Staub. –

Moses mit den Steintafeln unter dem Arm würde als Sitzfigur 8 Fuss hoch und gewaltig in den Proportionen sein. Doch er sollte nicht durch dieses eindrucksvolle äussere Volumen wirken, sondern durch sein geistiges Gewicht.

Wollte Michelangelo den leidenschaftlich erzürnten Moses darstellen, der, vom Berge Sinai zurückgekehrt, sein Volk bei der Anbetung des Goldenen Kalbes überraschte? Oder den betrübten, erbitterten Moses, der fürchtete, mit dem Gesetz zu spät gekommen zu sein? Er musste den allgültigen Moses suchen, der Gottes und der Menschen Wege kannte, der Diener des Herrn, der Seine Stimme auf Erden war. Auf den Berg Sinai gerufen, hatte er sein Gesicht verborgen, da er es nicht wagte, die Erscheinung Gottes anzuschauen, und hatte von Ihm die Steintafeln mit den eingemeisselten Zehn Geboten empfangen. Das Feuer seiner grossen Seele, das in seinen Augen brannte, durfte nicht der Ausdruck der Verzweiflung oder der Absicht zu strafen sein. Was Moses bewegt hatte, war der leidenschaftliche Wille, dass sein Volk sich nicht selbst zerfleischte, dass es die Gebote, die Gott in die Steintafeln eingegraben hatte, annehme und befolge und damit seinen Fortbestand sichere.

→Vatikan (delphische Sibylle)

Entstehung der Skulptur:
S. 524: Zuerst wandte sich Michelangelo dem Kopf des Moses zu und verlieh dem Mund einen so lebhaften Ausdruck, dass man meinen konnte, er müsse jeden Augenblick zu sprechen anfangen. Und weiter formte er die energisch vorspringende Nase, die mächtige, drohende Stirn, die Muskelstränge um die Backenknochen und endlich die tiefliegenden Augen, die dunkle Kontraste zu den Glanzlichtern bilden sollten, die er durch eine starke Politur auf die hervortretenden Knochen- und Fleischpartien des Gesichtes setzen wollte.

Ab 1513/14:  28 Jahre Unterbruch durch andere Arbeiten:

–       Der heroische und der sterbende Gefangene (Louvre, Paris)  1513-16
–       Der Auferstandene Christus (S. Maria sopra Minerva) 1518-21
–       Die 4 unvollendeten Gefangenen, Giganten (Academia
         Florenz) um 1519
–       Die Mediceer-Kapelle (Florenz) 1520-34
–       Biblioteca Laurenziana (Florenz) 1524-34
–       Die Morgendämmerung (S. Lorenzo Florenz, Medici-Kapelle)
         1524-31
–       Der Abend: dito
–       Madonna Medici: dito
–       Lorenzo: dito
–       Die Nacht: dito
–       Giuliano: dito
–       Der Tag: dito
–       Der Sieg (Palazzo Vecchio, Florenz) 1526-30
–       David (Bargello Florenz) 1502, 1531
–       Das Jüngste Gericht (Sixtinische Kapelle, Vatikan) 1536-41
–       Brutus (Bargello, Florenz) um 1539
–       Rahel (San Pietro in Vincoli, Rom) 1542
–       Lea (San Pietro in Vincoli, Rom) 1542

Im Jahre 1541, nach gut 28 Jahren arbeitet Michelangelo  erstmals wieder am Moses. Er arbeitet die dicken Haarlocken heraus und die beiden *Hörner, oder richtiger die Strahlenbündel, die das Alte Testament ihm beigab. Moses allein würde nun dem Julius-Grabmal seine Grösse verleihen, der Moses, seine beste Bildhauerarbeit.

Man setzte in S. Pietro in Vincoli das Wandgrabmal für Papst Julius zusammen und stellte Rahel (links) und Lea in die unteren Nischen, die Jungfrau, den Propheten und die Sibylle von Raffaello da Montelupo in die oberen. Michelangelo hielt das Monument für misslungen. Aber die Zentralfigur des Moses beherrscht die Kirche mit einer Strahlkraft, wie sie ähnlich nur von Gottvater auf der Sixtinischen Decke und vom Christus im Jüngsten Gericht ausgeht.

Die Aufstellung an diesem Ort war eine Verlegenheitslösung. Die Dimensionen dieser Statue sind verzerrt. Sie wirkt nämlich kleiner als derjenige meint, der sie nur von Abbildungen kennt. Die Moses-Statue ist aber von grossartiger Wirkung.

Die anmutige linke Figur Rahel  (Frau Jakobs) atmet den Geist von Michelangelo. (Lea, eine der Frauen Jakobs)

Über den gehörnten Moses, den die Zeitgenossen als „terribile“ apostrophieren, ist viel gerätselt worden. Es wurde behauptet, Moses sei in dem Augenblick dargestellt, als er im Begriff war, in heiligem Zorn aufzuspringen und angesichts des ungehorsamen Volkes Israel die Gesetzestafeln zu Boden zu schleudern. Sigmund Freud hat dem „Moses“ Michelangelos 1914 einen grossen Essay gewidmet, in dem er nachweist, dass dieser mitnichten aufspringen will, dass vielmehr der Augenblick festgehalten ist, in dem Moses die Undankbarkeit seines Volkes erkennt, wobei ihm die Gesetzestafeln fast entgleiten.

Wie dem auch sei: Dieses Bildwerk gehört zu den Sehenswürdigkeiten der Ewigen Stadt, die man selbst dann besichtigen sollte, wenn man sich unglücklicherweise nur einen Tag dort aufhält. Die beiden Hörner auf dem Kopf:

Die lateinische Übersetzung des Hieronymus von Exodus 34, 29:
„cumque descenderet Moses de monte Sinai tenebat duas tabulas testimonii et ignorabat quod CORNUTA esset facies sua ex consortio sermonis Die“

Ein Übersetzungsfehler der hebräischen Textquelle „QaRaN“ (Strahl) von „QeReN“ (Horn), zu seiner Zeit noch nicht vokalisiert (hier Kleinbuchstaben), daher für ihn missverständlich.

Andere Erklärung: Die Übersetzung des hebräischen Verbs „qäran“ in der Vulgata mit cornuta, „gehörnt“, statt coronata, „strahlend“ übersetzt.
(Hörner statt Strahlenbündel)

Moses in der Kirche S. Pietro in Vincoli, Rom  (zwischen S. Maria Maggiore [beim Bahnhof Termini] und Kolosseum)

→Vatikan (die delphische Sibylle)

Fotos von Stefan Meier, Wettingen/Berlin
Auszüge aus: Irving Stone, Michelangelo, Inferno und Ekstase. Ein biographischer Roman, 1961, Schweizer Verlagshaus AG, Zürich
Werner Affentranger