Grösse, Grenzen, Gewalten, Organigramm

Der Vatikan, das unbekannte Wesen

Vatikan1: Ort, Grösse, Grenze, Gewalten

Alles geschieht unauffällig, wenn Pilger und Touristen den Vatikanstaat über den Petersplatz oder die Museen betreten: keine Grenzwächter, kein Zoll, keine Grenztafeln noch die Staatsflagge.

Die meisten realisieren gar nicht, dass sie sich im Staat der Vatikanstadt aufhalten.

Erst bei vier von fünf offiziellen Eingängen, die von Schweizergardisten besetzt sind, haben sich die Eintretenden auszuweisen. Und ohne besonderen Anlass hat kein gewöhnlich Sterblicher zu diesem Staat Zutritt. Auch Priester müssen sich ausweisen. Nur Bischöfe in Violett und Kardinäle in Rot bedürfen keiner besonderen Kontrolle; sie sind entweder den Schweizern bekannt oder angemeldet.

Den Staat der Vatikanstadt findet man in der Ewigen Stadt, in der Nähe des Tibers, unweit der Engelsburg. Der Vatikanstaat selbst ist eingeschlossen,  d. h. er ist umgeben von der Stadtfläche Roms, gleich wie beispielsweise die beiden schweizerischen Halbkantone Appenzell Inner- und Ausserrhoden vom grossen Kanton St. Gallen.

Dieser Kirchenstaat ist winzig klein; seine Fläche misst nur 44 ha, exakt gleich den Siedlungsflächen der basellandschaftlichen Gemeinde Wintersingen oder der Gemeinde Greppen am Vierwaldstättersee. Und doch entspricht er genau der Parzelle, die die Stadt Basel auf dem Bruderholz der Gemeinde Binningen erworben hat.  Und doch fast 5 Mal grösser als die Klosteranlage Einsiedelns. Der Vatikanstaat ist nur 850 m breit und 1’045 m lang. Die gesamte Grenze misst 3,420 km, die man in gut einer halben Stunde auf den unmittelbar angrenzenden Strassen begehen kann; sie wäre für einen Langstreckenläufer die Aufwärmphase. Erst 1929 wurde unter Pius XI. die Mauer zwischen St.-Anna-Kirche und der Piazza Risorgimento als letztes Mauerstück fertig gestellt.  – Eben ja, winzig klein dieser Vatikanstaat, kleiner als die US-Botschaft in Bagdad, aber doch grösser als das Areal des Bundeskanzleramtes in Berlin.

Das Territorium des Vatikanstaates steht unter dem Schutz der Haager Konvention vom 14. Mai 1954. Alle seine Kulturgüter hätten also im Kriegsfall Schutz, d. h., die Nato müsste in diesem Falle über den ganzen Vatikanstaat ein Inventar erstellen und etliche Kulturgüter in Sicherheit bringen. Und im Jahre 1972 wurde dieser kleine Staat  in die Liste der Weltkulturgüter aufgenommen. So wird der Vatikanstaat international als ein moralisches, künstlerisches und kulturelles Denkmal anerkannt und verdient bei unserem Besuch Respekt und Schutz, sei es im Petersdom, in den Museen, oder wenn uns die Gunst  hold ist, gar in den Vatikanischen Gärten.

Die UNO hat den Staat der Vatikanstadt als eigenständigen Staat anerkannt. Er lebt als absolute Monarchie mit gesetzgebender, ausführender und richterlicher Gewalt. Nur sind seine wichtigsten Amtsführer Priester und von denen die meisten Italiener. Keine Frauen. Das Staatsoberhaupt ist der Papst, der alle seine Funktionen dem zweitmächtigsten Mann, dem Staatssekretär, und dieser einer Kardinalskommission abgegeben hat. So regieren 5 Kardinäle; den Vorsitz hat der Kardinalspräsident,  Sitz ist der Governatorats-Palast hinter der Peterskirche. Wird ein neues Gesetz oder ein bestehendes zur Änderung vom Kardinalspräsident vorgeschlagen, muss zuerst das Staatssekretariat die Zustimmung geben, bevor es dem Staatsoberhaupt vorgelegt wird. In der ausführenden Gewalt reden noch der Generalrat und der Staatsrat  mit. In diesem Staats-Rat sitzen Laien, wohl in der Minderheit. Früher war dieser Staatsrat von Roms Hochadel überbelegt. Da seit Papst Paul VI. die Adelstitel im Vatikanstaat nicht mehr erblich sind und nicht mehr vergeben werden, sitzt heute nur noch ein Adels-Vertreter im Staatsrat, wohl als Marktgraf, Herzog oder Edler.

Ordnet man alles zusammen, ist der Kardinalspräsident nicht nur Vorsitzender der gesetzgebenden, sondern auch Ministerpräsident der ausführenden Gewalt. Auf die Schweiz übertragen wäre dann eine Bundesrätin oder ein Bundesrat zugleich National- oder Ständeratspräsidentin oder –präsident. – Der erste Ministerpräsident des Staates der Vatikanstadt, damals Gouverneur genannt, war unter Papst Pius XI. Signor Camillo Sarafin, der jeden Tag zum Papst musste, so heisst es. Er war der erste und letzte Nichtpriester in diesem Amt.

Das Governatorat  ist die Gesamtheit aller Verwaltungseinheiten des Staates. Damit sind wir beim Organigramm. Die Verwaltungseinheiten gliedern sich in 9 Direktionen und 8 Zentralämter. Insgesamt arbeiteten im Jahre 2008 1’891 Angestellte für den Vatikanstaat, das entspricht fast genau der Einwohnerzahl der Luzerner Gemeinde Werthenstein, die im Jahre 2009 1899 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Von den erwähnten Vatikan-Angestellten arbeiteten  310 Frauen, d. h. 16,39 %. Verglichen mit anderen Staatsbetrieben liegt die Anzahl der Angestellten sehr tief. Journalisten frugen Papst Johannes XXIII. anlässlich seines ersten Treffens mit ihnen: „Heiliger Vater, wissen Sie eigentlich, wie viele Personen im Vatikan arbeiten?“ Er antwortete verschmitzt: „Etwa die Hälfte“.
Im Jahre 2014 arbeiteten insgesamt 19 % Frauen im Vatikan. In der Kurie 18 %. Nur 2 Frauen haben Spitzenpositionen als Unterstaatssekretärinnen inne.
Im Jahre 2012 waren beim Vatikan insgesamt 4’759 Laien und Priester im Arbeitsvertrag, davon 2’823 beim Heiligen Stuhl bzw. 1’936 beim Vatikanstaat.

Die wichtigsten Gesetzestexte des Staates, z. B. das Grundgesetz, die Verwaltungsordnung, das Zutrittsreglement, das Dekret über die Seeschifffahrt (ja, das gibt’s) können Sie übrigens in deutscher Sprache auf der Homepage des Governatorats www.vaticanstate.va herunterladen. – In der Verfassung des Staates der Vatikanstadt kommt das Wort „Gott“ nie vor. Das wusste ein amerikanischer Journalist auch, der das letzte Konzil kommentierte und meinte: „Das erstaunt mich gar nicht. Auch während des Konzils wurde über alles geschrieben und geredet, nur nicht über Jesus Christus.“ – Anders als die Islamische Republik Iran ist der Vatikanstaat kein Gottesstaat. Staatsreligion ist nur der Katholizismus. Laut Staatsbürgerschaftsgesetz von 1929 sind nur Kardinäle im Vatikan zu katholischem Glauben verpflichtet. Es können also auch Andersgläubige hier wohnen und leben. Weltweit zählt der Vatikanstaat  mit 100 % den höchsten Katholikenanteil, z. B. wohnten im Jahre 2008 556 Perrsonen auf Staatsboden. Nur in Tuvalu, einem Insel-Staat im Pazifik, rund 50 x grösser als der Vatikanstaat, leben prozentual knapp weniger Katholiken.

Liebe Leserin, lieber Leser,

in der nächsten Einheit (Vatikan 2) lesen Sie u. a. vom Juristischen Amt und der Tatsache, dass der Vatikanstaat im Verhältnis zu seiner geringen Einwohnerzahl ungebrochen die weltweit höchste Kriminalitätsrate aufweist.
Werner Affentranger